Den Flecknerhof Wald entdecken
Der eigenen Wahrheit auf der Spur
„Gleich hinter den letzten Häusern geht's links hinauf. Wenn es nicht mehr weitergeht, bist du da“, sagt Sebastian Schrödl am Telefon. Brav gebe ich die Adresse ins Navi ein und fahre nach Rettenschöss und dann bergauf. Etwas zu weit, wie sich später herausstellt. Ich war fast ganz oben am Berg und musste wieder umdrehen. Beim zweiten Anlauf, vertraue ich auf meine Adleraugen und siehe da, es klappt. Ich folge dem Schild Richtung Feistenau und der einzigen, einsamen Straße, die auch wieder viele Serpentinen hat. Am Ende des Weges nach Nirgendwo ist Sebastians Hof. Es geht doch und so freue mich auf den Herrn des Waldes, der Menschen sämtlicher Wichtigkeiten zeigt, wie sie dank der Magie des Waldes der eigenen Wahrheit auf die Spur kommen. Ich steige aus meinem Auto und höre die Kühe im Stall. Sie genießen ihr Leben auf einem echten Bergbauernhof. Diese Landwirte sind wichtig für die Kulturlandschaft. Die Tiere, ihres Zeichens wahre Meister des Kraxelns, sorgen für die schönen Wiesen mit dem festen Untergrund.
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Sebastian begrüßt mich und wir beginnen ein spannendes Gespräch fernab der Waldpädagogik und der Entwicklung seiner Passion. Der 64-jährige erzählt aus seinem Leben. „Wer bei uns Sebastian heißt, der muss auch den Hof übernehmen. Das geht jetzt schon mehrere Generationen so.“ Praktischerweise sind gleich zwei weitere Wastls auf dem Hof. Der Sohn meines Gesprächspartners und dessen Enkel. Der Senior beschreibt mir sein Leben. Eine Zusammenfassung lautet: „Ich bin hier mit der Natur aufgewachsen. Ich weiß genau, wann etwas blüht oder welche Hölzer wir zu welchem Sternzeichen und Mondstand schlagen.“ Als junger Bursche wurde ihm schon gesagt, dass er den Hof übernehmen wird und dass die Schule nicht so wichtig ist. „Wenn was zu tun war, wurden wir entschuldigt“, sagt er.
Pendler zwischen Enge und Weite
Wir reden über viele Dinge, aber schon aus den oberen Worten wird klar, Sebastian war zunächst einmal nicht selbstbestimmt, sondern wurde bestimmt. Der junge Mann kannte es nicht anders. Auf der einen Seite sollte der Hof weiterleben. Somit beugte er sich der Familientradition. Parallel hierzu sollte er Waldaufseher werden. Übermäßig begeistert war er zunächst nicht, aber schließlich freundete er sich mit der wenig lukrativen Aufgabe an. Sebastian tauchte immer tiefer in das Leben mit der Natur ein, sein Wissen wuchs und sein Talent, dieses weiterzugeben, fasziniert seine Gäste und erfreut sich mittlerweile wachsender Begeisterung: „Ich weiß auch nicht genau, warum ich jetzt immer mehr Leute anziehe. Die kommen einfach und ich habe wirklich viele Gruppen.“
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Seine Geschichte ist unsere Geschichte
Sebastian strahlt Klarheit und Wahrheit aus. In diesem Sinne beschreibt er nichts, was er nicht selbst erlebt hat. Der Naturfreund blättert im Buch seines Lebens weit zurück. Wir schreiben Sylvester 1997, als er mit seinen Freunden einen etwas anderen Jahreswechsel feiert. „Ich habe vorgeschlagen, dass wir erst draußen sind und etwas machen und erst später dann auf Mitternacht warten. Das fanden alle gut“, erinnert er sich. Irgendwann saßen die Freunde zusammen und fragten den Wastl, wie er denn das letzte Jahr emotional erlebt hat. „Das war für mich ganz schwer zu beantworten und so kam ich drauf, dass ich etwas ändern musste. Ich war komplett fremdbestimmt“, unterstreicht der baldige Mittsechziger. An dieser Stelle gilt es innezuhalten und sich als Leser respektive Autor zu fragen: Ist Sebastians Geschichte nicht unser aller Geschichte oder zumindest das Drehbuch für so viele Leben? Oder anders gefragt: Wieviel Zeit unserer eigenen Erdengeschichte leben wir wahrhaft aus dem Herzen mit voller Inbrunst und wie hoch ist der zeitliche Anteil, in welchem wir marionettenartig auf der Bühne des Lebens hin- und hergeschoben werden, um einem künstlich gesteuerten Bild im Außen zu entsprechen? Schon in jungen Jahren wollte Sebastian weg: „Ich dachte mir immer, dass ich, wenn ich das Geld zusammenhabe, einfach gehe. Schließlich war es so weit und ich blieb doch daheim“, denkt er zurück. Viele Jahre später wurde ihm bewusst, warum er nicht ging: der Wald ist seine Heimat und seine Bestimmung ist es, mit der Natur zu leben und diese Erfahrungen in „Holz“ zu meißeln und vom Herzen heraus weiterzugeben.
Der Wald: Schatzkammer der Seele
Letztendlich fügte sich eines zum anderen. Das es keine Zufälle gibt, zog Sebastian wenig später auch die Aufgabe des Waldpädagogen an. Sebastian lernte vor allem, wie er etwas erzählen kann. Das, was war ihm mehr als vertraut. Plötzlich kam seine großes Talent mit zum Vorschein. Mittlerweile sind wir im Wald angekommen. Liebevoll hat Sebastian die Wege inszeniert. Natur fließt in Natur und das spüren die Menschen, mit denen sich der Waldpädagoge auf die Reise. Wir gehen zum einem Baumstumpf, der wie ein überdachter Thron aussieht. Ich lasse mich nieder und spüre die Schwingungen des Baumes. Jedes Lebewesen und jede Materie hat seine eigene Schwingung und es gilt, diese auf deine eigene Art zu entdecken und aufzunehmen. Wir wandern über Wurzeln und über manchen Fels. Jeder Schritt im Wald bringt den Menschen näher zu sich. Der Wald bietet Schutz, schenkt Stille, spendet manchmal sogar Heilung und macht den Besucher frei, wenn er bereit ist, sich darauf einzulassen. Sebastian leitet mich auf einen Weg: „Es ist jetzt nicht wichtig, alle Kräuter oder Bäume zu kennen. Die Leute sollen sich ausschließlich auf ihre Schritte konzentrieren.“ Die Füße tragen uns durchs Leben und dennoch schenken wir ihnen viel zu wenig Aufmerksamkeit. Gleiches gilt für die Natur. Wir sind Teil dieser und dennoch viel zu selten direkt mit ihr verbunden. Dabei ist der Wald eine Art Schatzkammer der Seele. Die unterschiedlichen Energien fließen durch uns hindurch. Vom „Himmel“ in die „Erde“ und umgekehrt. Jedes Energiefeld, das durch die unterschiedliche pflanzliche Zusammensetzung des jeweiligen kleinen Kraftortes, den ich mit Sebastian innerhalb dieser Runde betrete, berührt mich auf andere Weise. Jeder Winkel streichelt meine Seele, weckt vielleicht nur wohlige Gefühle oder fördert Bilder alter Erinnerungen zutage. Schnell spiegelt sich auf meinem Gesicht ein Lächeln wider. Sebastian zeigt mit eine Art kleine Höhle, in der sich die Gäste niederlassen können. Auch hier kannst du wieder in dich hineinhören oder einfach nur Stille fühlen.
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Waldbaden und in die Mitte kommen
Der Wald über mir ist das Meer, das Rauschen der Blätter sind die Wellen, die an den Strand plätschern und ich fühle mich als Teil des tiefen Ozeans, der durch nichts aus der Ruhe zu bringen ist. „Waldbaden“, sagt Sebastian dazu und erinnert sich dabei an seine Oma, die immer, wenn es einmal menschlich heißer zuging, sehr bewusst in den Wald ging und die emotionalen Flammen zu löschen, wieder aufzutanken und voller Energie zurückzukehren. Waldbaden bedeutet seine Mitte finden und in diese zu kommen. Waldbaden ist eine Meditationsform, wobei „Medi“ ohnehin schon die Mitte symbolisiert. Du lässt die Gedankenhektik des Alltags los, du wirst in der Tat immer langsamer, bewusster und plötzlich nimmst du andere Blickwinkel auf manches persönliches Ereignis oder dein Leben ein. Du wirst zum Beobachter und erntest Erkenntnisse, die du im Normalfall so nicht erhalten hättest. Und, wenn diese nur sind, dass Stille der heilige Gral deines Geistes ist, der Blockaden gehen lässt. Sebastians Waldparadies bietet noch so viel mehr. Hier, in Rettenschöss, entdeckst du unter anderem einen Hüttenzauber besonderer Art, der an anderer Stelle extra beschrieben wird.
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Uli Kaiser, 51, freier Journalist für Sport, Wirtschaft und Kultur, hat in seinem Leben zahlreiche Leistungssportler hautnah begleitet. Er genießt das Leben in der Natur und saugt jede kleine Nuance auf. Schwimmen, Radfahren, Wandern und Nordic Walking gehören zu seinen sportlichen Betätigungsfeldern. Ansonsten macht er sein Hobby zum Beruf. Er genießt Regionen zu entdecken und zu beschreiben, wie Menschen leben und welche Gedanken sie haben.